Warum Selbstführung in Zeiten des Wandels unverzichtbar ist

Walter Braun

Von Walter Braun

Die vierte „industrielle Revolution“ ist im vollen Gange und längst keine Zukunftskonstruktion mehr. Industrie- und humanoide Roboter übernehmen immer mehr Wertschöpfungsketten, Algorithmen die Personalsuche und Vertragsgestaltung, Telemedizin die OP-Planung, 3D-Drucker die Fertigung von Produkten und Bots den Wissenstransfer. Unabhängig von ihren intellektuellen Anforderungen verschwinden immer mehr Menschen zugeordnete Aufgaben und sogar Berufe. Busfahrer wie Radiologen werden umlernen müssen. Und nicht nur sie. 

In einer von dynamischen Veränderungen getriebenen Wirtschaft ist eine menschliche Fähigkeit überlebensnotwendig: die zur Selbstführung nämlich. Wer seine Ressourcen, seine Gesamtheit an Stärken, Schwächen und Potenziale kennt, kann sie nutzbringend für die eigenen Ziele und Absichten einbringen, verändern und kontrollieren. Er bleibt trotz ambitionierter und abstrakter Anforderungen handlungsfähig, weil er auch seine latenten Ressourcen kennt und nutzen kann. Wer keine diesbezügliche Transparenz erlebt, läuft Gefahr, sich über- oder unterzufordern und an Arbeitszufriedenheit und Lebensqualität zu verlieren.

Veränderungen sind emotional getriggert

Dass sich die Wirtschaft permanent ändert, ist nichts Neues. Das Problem des Änderns von Geschäftsmodellen und Arbeitsstrukturen liegt darin, dass sich der Umbau eines Unternehmens  oder Geschäftsprozesses immer mehr rein logisch vernünftigen Schritten entzieht. Auch wenn man rational einen fahrerlos pilotierten Werksverkehr begründen und die Zukunft prägnant in Machbarkeit suggerierender Terminologie beschreiben kann: Transformationsprojekte sind eher intuitiver Natur. Gut, schlecht, modern, notwendig, zukunftsgerecht, disrupt, agil etc. sind gefühlsauslösende Begriffe, denen eine granular nachvollziehbare Begründung fehlt. Es sind in der Regel Wetten auf die Zukunft. Um so mehr müssen solche aus Sehnsüchten und Gefühlen gespeisten Entscheidungen auf dem Resonanzboden der persönlichen Denk-  und Erlebnisstile aller Beteiligten reflektiert werden.

Längst hat aber die technologische Entwicklungsgeschwindigkeit die menschliche abgehängt. Die langsame Ratio kapituliert vor ihrer Präzision und weicht schnellem, emotionalem Fühlen, um einigermaßen den rasenden Technikentwicklungen nachzukommen. Ergebnis: Anfälligkeit für einfache Lösungen und nicht zu Ende gedachte Entscheidungen.

Selbstführung schafft Zutrauen und schützt vor Überforderung

Was aber bedeutet die Entgrenzung der Logik und die Zunahme intuitiver Entscheidungen für die Bewältigung der Anforderungen? Fach- und Führungskräfte müssen in Zukunft mehr denn je auf ihre Fähigkeiten vertrauen, um mit kaum berechenbaren Situationen klarkommen zu können. Es greift schlicht zu kurz,  mit Hauruck- und Alles-ist-machbar-Mentalität sich bereitwillig  schwierigen Situationen zu stellen. Erst aus vorausschauenden, viele Perspektiven enthaltenden und Handlungsoptionen resultiert eine Bereitschaft, sich derart  psychisch gewappnet auf ein „Abenteuer“ mit ungewissem Ausgang einzulassen. Solche Denkstile fordern von Menschen innere Transparenz. Die Befähigung, ein gutes Gefühl dafür zu entwickeln, was man warum will und sich zutraut oder eben was nicht, ist der Schlüssel zum Zutrauen in die eigenen Potenziale. Diese Potenziale schützen den Menschen davor, sich nicht von außen und spontan zu riskantem Verhalten verleiten zu lassen. Vielmehr ermutigen sie ihn, aus eigenem Selbstbewusstsein heraus  sich auf neue Situationen einzulassen. Nicht mehr Impuls und Emotionalität regieren das Agieren, sondern die Bereitschaft zur „begrenzten Instabilität“, die Bereitschaft also zum kalkulierten Risiko bzw. Scheitern. Eine Fähigkeit, die gerade im Blick auf die dynamischen und vielfältigen Veränderungen in den Betrieben für die Leistungselite unverzichtbar ist – durch alle Hierarchien hindurch.

Zunehmend häufen sich risikoreiche Situationen, deren Merkmale unbekannt sind oder in ihrem Zusammenwirken nicht erkannt werden. So birgt etwa die Neubesetzung einer Stelle prinzipiell das Risiko, den Falschen auszuwählen. Auch weiß man nicht, ob die Talente  eines neuen Mitarbeiters wirklich zur Geltung kommen und welche Faktoren seine Integration behindern. Schon solche einfachen Situationen nötigen eine Führungskraft zu einem umsichtigen und  vorausschauenden Verhalten unter Reflexion der eigenen Rolle und Ansichten.

Lösungen, die aus der gesicherten Erfahrung vergangener Problembehandlungen abzuleiten wären, helfen immer weniger weiter. Die meisten müssen individuell und aus dem situativen Kontext heraus neu gedacht werden. Ohne Improvisationskunst und Selbstbewusstsein gelingt das nur schwer. Selbstführung wird so zur universalen Anforderung an ein gelingendes Arbeiten.

Wege zur Selbstführung

Wie kann nun ein reflektierter Umgang mit sich und seinen Ressourcen erreicht werden, ohne in den üblichen Appellen an die Selbstverantwortung stecken zu bleiben? Und wie können Führungskräfte sich sensibilisieren, in schwierigen Situationen umsichtig und nicht affekt- oder impulsgetrieben zu agieren?

Sicherlich gibt es dafür keine Blaupausen und Rezepte, sondern eher grobe Zielfelder und Rahmenbedingungen. Etwa:

  • Eine fehlerfreundliche Lernkultur, weil die Logik des Scheiterns in komplexen Situationen allzu menschlich ist und zu neuen Erkenntnissen beitragen kann.
  • Die innere Bereitschaft, achtsam und bewusst mit sich selbst umzugehen, um daraus Gelassenheit und Tatendrang zu finden.
  • Unterstützende Hilfe, um mentale, affektive und verhaltensbezogene Strategien zur Selbstführung kennen und praktizieren zu lernen.
  • Arbeitskulturen, die Führung durch Selbstführung ermöglichen, um die individuellen Potenziale kulturell weiter zu verfestigen.
  • Eine Personalentwicklung, die weniger auf Verhaltenstechniken und Seminarformate setzt und mehr auf Reflexion- und Erfahrungslernen, um die Einstellungen und Werte der Menschen zu erreichen.
  • Arbeitstrukturen, die Flexibilität, Kollaboration und Eigenverantwortung ermöglichen, um arbeitsimmanente Voraussetzungen zur Selbstführung zu schaffen.
  • Selbstführung von Selbstoptimierung trennen, um psychischen Autismus zu verhindern und seelische Gesundheit zu gewinnen.

 

Dass mit Selbstführung Verhaltensbereitschaften und ungeahnte Energien zur Bewältigung außergewöhnlicher Anforderungen freigesetzt werden können, zeigt seit Langem der Leistungssport. Wie dort jedoch erst ein radikales Umdenken die Trainingspläne veränderte, so wird  auch in der betrieblichen Bildungsarbeit erst ein mutiger Musterbruch mit der Tradition zu ihrer Formatänderung führen. Personalentwicklung ist eben kein Ponyhof für Traditionalisten und Bewahrer. Oder!?

 

Kommentare

Noch fehlt im oberen Management die Einsicht in die strategische Bedeutung der Personalentwicklung. Das hat auch damit zu tun, dass die Pe'ler überwiegend mutlos und wertschöpfungsfern denken. Der Ponyhof ist daher naheliegend.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Selbstführung in nahezu allen Lebensbereichen die bestimmende Fähigkeit für ein "gelingendes Leben und Arbeiten" (wie Sie das an anderer Stelle einmal nannten) ist. Insbesondere im Job stellt sie eine zentrale Anforderung dar. Wir haben sie daher seit einiger Zeit in den Katalog der überfachlichen Kompetenzen aufgenommen.

Veränderungen in Unternehmen sind gute Gelegenheiten, Machtspiele zu beobachten. Nicht das, was der Sache dient, isondern das, was Claims sichern hilft, ist der Erfolgstreiber. Zugegeben: Selbstführungkompetenz ist eine notwendige Vorraussetzung für Machtspieler.

Seine Ressurcen zu kennen, ist eine wichtige Vorraussetzung für Erfolg. Das bringen Sie deutlich auf den Punkt. M.E. Ist es aber genauso wichtig, es zu wollen und Verantwortung für sich und sein Handeln zu übernehmen. Verantwortungsbereitschaft ist aber ein Wert, der in der betrieblichen Personalentwicklung eher stiefmütterlich behandelt wird.

Schon lange bügeln flexible und Initiative Mitarbeiter, das aus, was in den Mühlen des organisierten Stillstands der Organisationen in den Zahlenfriedhöfen verschwunden ist. Steuerbarkeit ist keine Frage von Managementtools, sondern eine von Verantwortungsbereitschaft und Gestaltungswille. Das gilt generell, nicht nur in komplexen Situationen. Ohne "Selbstführung" schwindet die Leistungskraft eines Unternehmens. Eine KPI-Kultur erstickt sie und fördert die organisierte Verantwortungslosigkeit.

Selbstführung ist zentraler Fokus in unserer Führungsausbildung bei den KaosPiloten in Bern. Druck produzieren wir immer selber – in uns drin. Stress auch. Daher sind die Fragen wie "Was will ich eigentlich?" - und als Team und Unternehmung: "Was wollen wir eigentlich?" mit einer nachhaltigen Perspektive von den nächsten 7 Generationen anzuschauen, essenziell. Erfahrungsgemäss braucht diese Persönlichkeitsentwicklung bei unseren Studierenden im Vollzeitstudium und mit viel persönlichem Engagement 3 Jahre. Wir haben in 20 Jahren mit vielen Personalentwicklungsmassnahmen und inspirierenden High-Potential Programmen mit vielen engagierten Unternehmungen und Organisationen keine solche Wirkung erzielen können wie jetzt mit dem 3jährigen Vollzeitlehrgang. Klar, das braucht ein starkes Commitment und Mut. Die Frage ist wohl: Sind wir bereit, die alten Rezepte für Erfolg loszulassen? Und uns auf den Weg zu machen, um neue Erfahrungen zu sammeln?

Sie ist auch deswegen unverzichtbar, weil es immer mehr den Mitarbeitern zufällt, über ihre eigenen Entwicklungsbedarfe zu reflektieren und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Dazu aber müssen sie auch in der Lage sein. Vorgesetzte und PEler sind davon nicht ausgenommen. Wer sorgt dafür, dass die das auch können? Die Frösche legen bekanntlich ungern den eigenen Teich trocken.

Selbstführung gelingt nur in einem erlaubenden Umfeld. Meist fehlt dies!

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