Der folgenlose Ruf nach Komplexitätsmanagement

System Management

Von Walter Braun

Wieso ist der Ruf nach Kompetenzgewinn im Umgang mit Komplexität ungebrochen hoch, aber die Bereitschaft, dafür etwas zu tun, bescheiden gering?

Immer häufiger werden in repräsentativen Studien und Personalbefragungen Programme bzw. Instrumente zur Bewältigung von Komplexität in den Rankings auf Platz eins oder zwei der dringendsten Bedarfe geführt. Dass Personalverantwortliche Komplexität als die Herausforderung zur Erfolgssicherung sehen, ist nicht verwunderlich, denn es gibt kaum mehr Unternehmen, die aufgrund ihrer globalen Abhängigkeiten, vernetzten Strukturen, vielfältigen Schnittstellen zwischen Beschaffungs-, Absatz- und Personalmärkten von Komplexität verschont bleiben.

Andererseits ist aber bemerkenswert, dass im Umgang mit Komplexität sich eine Meinung breit macht, wonach sie sich beherrschen ließe, wenn man nur die passenden Instrumente dafür hätte. Also – so die kurz gestrickte Meinung - schult man Mitarbeiter, kauft Simulationssoftware zur Abbildung komplexer Szenarien, baut klar definierte Prozessstrukturen und kritische Pfade im Projektmanagement auf und meint, damit Komplexität abgebildet und beherrschbar gemacht zu haben. Dieser Irrtum ließe sich zwar durch entsprechendes Argumentieren korrigieren und in Alternativen überführen. Aber er sitzt tiefer und ist kaum wahrnehmbar, weil der Irrtum als solcher im Routinekleid scheinbarer Erfolgsrezepte daherkommt.

Meine Erfahrung nach resultiert dies aus drei fundamentalen Denkfehlern im Umgang mit Komplexität.

 

Denkfehler Nr. 1: komplex ≠ kompliziert

Man verwechselt Komplexität mit Kompliziertheit. Man ist der festen Überzeugung, dass man durch exaktes Definieren von Schnittstellen, Prozessschritten, Abhängigkeiten oder Problemlöseschritten Erfolgsspuren setzen könnte. Man behandelt komplexe Situationen also ohne Kenntnis von Komplexitätskriterien in Analogie zur Standardisierung herkömmlich verzweigter und vernetzter Probleme. So kommt es, dass auch größere Projekte nicht scheitern an der fehlenden Beschreibung von Vorgehensschritten, sondern wegen des Ignorierens von Unbestimmtheit, Unsicherheit und sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren. Komplexität ist schlicht nicht berechenbar. Sie wird bestimmt von unbeabsichtigten Neben- und Fernwirkungen, von Unkenntnis über die Effekte der einzelnen Maßnahmen, von dynamischen Veränderungen innerhalb bestimmter Zeitfenster etc.

 

Denkfehler Nr. 2: etablierte Strukturen als Lähmschicht

Die bestehenden Strukturen der Organisations- und Personalentwicklung in Unternehmen sind ungeeignet. Sie gehen von einem Modell der spezialisierten Fachfunktionen aus. Proklamieren die technische Machbarkeit und sind hauptsächlich durch Abgrenzungen der Abteilungen untereinander und der babylonischen Sprachverwirrung zwischen den Abteilungen gekennzeichnet. Insbesondere Personalenwicklung hält an ihren Programmen fest, ist hoch zufrieden etwa mit modulbezogenem Klassenraumlernen Kompetenzen zu vermitteln und deklariert dies auch noch unter innovativ. Lernen, mit Komplexität umzugehen heißt aber, alte Strukturen aufzulösen und arbeitsimmanente Lernmöglichkeiten auf der Basis von Wissen und Erfahrungslernen zu nutzen. Reflexionspartner und Advocatus diaboli Denken bilden das Gerüst zu Perspektivwechsel und Unbestimmtheitstoleranz.

 

Denkfehler Nr. 3: Maxime der Machbarkeit

Die Umsetzung betrieblicher Maßnahmen ist ziel- und ergebnisfixiert. Wenn diese Ziele nicht erreicht werden, taugten die Maßnahmen nichts. Alles ist machbar! Eine eindeutige Zuordnung zwischen Ergebnis und Maßnahme wird hier unterstellt. Dies ist prinzipiell unangemessen. Notwendig ist, ein Gespür für die Vielfalt von Abhängigkeiten zu entwickeln, das Scheitern mit einzukalkulieren und eher in Optionen als in Zielfixierungen zu denken.

 

Wer mit Komplexität fertig werden will, braucht zuallererst die Fähigkeit, Kulturbrüche in der Kompetenzentwicklung der Menschen zu initiieren, Rituale der Geschäftsmodelle zu unterbrechen, feste Glaubenssätze im Unternehmen durcheinander zu bringen und völlig neue Verfahrensweisen in der Personalentwicklung zu etablieren. Dazu braucht es kluge, pfiffige, widerstandsfähige und sehr persönlichkeitsstarke Menschen. Die sind nicht wie Sand am Meer vorzufinden. Man kann sie aber entdecken und fördern. Wetten?!

Kommentare

Meiner Meinung nach ist für alle Unternehmer und Mitarbeiter heute spürbar, dass die Komplexität durch die steigende Vernetztheit zugenommen hat: im Unternehmen und in der für das Unternehmen bedeutsamen Umwelt. Die Abhilfe ist leider nicht durch eine einzelne Maßnahme zu erreichen, sondern erfordert, das Unternehmen neu zu denken und dann entsprechend neu aufzustellen. Dies ist aufwändig, erfordert vielleicht sogar externe Hilfe und wird daher von den meisten Unternehmen nicht gemacht.
Wenn man sich aber daran machen will, ist es hilfreich, sich zuerst noch einmal die Eigenschaften von Unternehmen als soziale Systeme vor Augen zu halten und zu berücksichtigen.

Soziale Systeme sind
 zu ihrer Lebenserhaltung sinnhaft konstituiert.
Soziale Systeme verarbeiten den Sinn (Gedanken und Vorstellungen) in Form von sprachlich-symbolisch vermittelter Kommunikation. Soziale Systeme bilden sich auf der Grundlage von Kommunikation. Für die Kontinuität sozialer Systeme und ihren Lebenserfolg ist fortlaufende Kommunikation unerlässlich. Daher ist es wichtig, dass Mitarbeiter den Sinn und Zweck ihrer Tätigkeiten erkennen und sich mit dem Unternehmensziel und der Zielsetzung ihres Bereiches identifizieren können.

 nicht trivial.
Ein Trivialsystem reagiert auf immer gleiche Art; wir wissen, was wir erwarten können. Die Kausalmechanik Input zu Output ist gekennzeichnet durch Berechenbarkeit, Linearität, Serialität. Ein nicht triviales System dagegen kann den Beobachter oder den, der eine Veränderung bewirken will, durch sein Verhalten sehr überraschen. Es reagiert in der Regel unerwartet, konterintuitiv, nicht vorhersagbar und nicht determinierbar. Überraschend besonders, wenn der Beobachter das System trivialisiert oder dem System keine eigene Logik und Autonomie zubilligt. Überraschung und Dissens sind daher in einer betrieblichen Organisation als normal anzusehen.
Gewünschte Veränderungen bedürfen der Einsicht in die Organisation und der richtigen Vorbereitung (daher "neu denken").

 komplex.
Komplexe Systeme sind nicht aus den Eigenschaften ihrer Teile erklärbar, sondern umgekehrt erst die besonderen Eigenschaften des jeweiligen Systems machen das Verhalten und die Potentialitäten seiner Teile verständlich. Das bedeutet, dass sehr wohl Personen auf Organisationen einwirken, aber die besonderen Eigenschaften einer Organisation die Entfaltungsmöglichkeiten der Personen begrenzen und zugleich erweitern können. Das wird sofort klar, wenn man sich vorstellt, wie man mit seinen Fähigkeiten statt in der jetzigen Organisation in einem Krankenhaus arbeiten würde.

 anpassungsfähig.
Soziale Systeme sind adaptiv offen, d.h. sie sind in der Lage Impulse von außen in eine Veränderung des Verhaltens umzusetzen. Die Anpassungsfähigkeit sichert das Überleben einer Organisation unter veränderten Bedingungen. In Zeiten rascher Veränderungen ist daher zielgerichtete Anpassung gefragt. Diese wird gewährleistet durch geeignete Kommunikation, Arbeitsweisen und Regeln und die Delegation von Verantwortung dorthin, wo sie am besten wahrgenommen werden kann (Zusammenarbeit von Zentralbereichen und Standorten!).
Die Anpassungsfähigkeit wird ebenfalls gewährleistet durch das Einüben bestimmter Arbeitsweisen zur Erzeugung von Qualität, Sicherheit in der Arbeit und den Einsatz von Feed-back-Systemen zur Steuerung.

 operativ geschlossen.
Soziale Systeme neigen dazu, ihre Handlungen auf sich selbst und frühere Erfolge zu beziehen und an eingeübten Verfahrensweisen festzuhalten. Man sagt daher auch, soziale Systeme sind selbstreferentiell und neigen zu Autonomie.

 Soziale Systeme arbeiten mit verschachtelten Regelsystemen und Rückkoppelungssystemen zur Steuerung.
Veränderungen im Unternehmen: diese können auf den ersten Blick und auf der Oberfläche durchaus erfolgreich sein. Im weiteren Geschehen schlagen aber Metaregeln von Belohnungs- und Karrieremustern, sowie Gewohnheiten durch und durchkreuzen die Veränderungsabsichten. Sobald aber die "Opfer" der Intervention wieder sich selbst überlassen sind, greifen die "älteren" Regeln des traditionalen Systems und erdrücken in aller Regel die neuen Errungenschaften.
An der Konstruktion der Wirklichkeit von Organisationen haben
a) Personen
b) Regelsysteme, etablierte Routinen, Erwartungen und andere Formen anonymisierter Kommunikationsstrukturen
einen unterschiedlichen Anteil.
Zur Veränderung der Kommunikationsmuster in einer Organisation ist daher die Einwirkung auf Personen nicht ausreichend. Es müssen die systemischen Operationsweisen des jeweiligen sozialen Systems selbst beeinflusst werden, um kalkulierbar Ergebnisse zu erzielen.
Tatsächlich läuft die Veränderung von Organisationen darauf hinaus, nicht Personen zu verändern, sondern die in der Organisation geltenden Regelsysteme. Auf diese Weise vermeidet man die Heroisierung von Personen sowie die Personalisierung von Mängeln und Rationalitätsdefiziten (Suche von Schuldigen).
Dabei ist jedoch zu beachten, dass ein Großteil organisatorischen Verhaltens, Entscheidungen eingeschlossen, mehr aus dem Befolgen von Regeln besteht als dem Abschätzen von Konsequenzen.

Das Risiko im Hang zu operativer Geschlossenheit liegt in der Erzeugung von „Betriebsblindheit“ und der Neigung, Dinge so zu tun „wie wir sie immer schon getan haben“, ohne die Notwendigkeit zur Anpassung angemessen zu berücksichtigen. Soziale Systeme wehren sich daher gegen Veränderung.

Erfolgreich managen heißt daher, über geeignete Kommunikation die notwendige Einsicht in den Köpfen aller Mitarbeiter eines Unternehmens zu erzeugen, dass rechtzeitiges und richtiges Handeln besser ist als zu warten bis der Leidensdruck so groß wird, dass man handeln muss oder gar so groß, dass man durch Zwang zu Handlungen gezwungen wird, die man gar nicht mehr selbst bestimmen kann.

Hallo Herr Doktor Pelz,

herzlichen Dank für Ihre ausführlichen und anregenden Anmerkungen zum Komplexitätsmanagement. Ich erinnere mich gerne an Ihre These im Rahmen unseres IPM-'Treffens, wonach die weltweiten Abhängigkeiten des Finanzsystems derart komplex sind, dass sie Menschen überfordern, dieses zu beherrschen. Der Crash ist unvermeidlich. So ähnlich sehe ich das auch im Umgang mit Komplexität. Systemisch gesehen osziliert auch ein soziales System zwischen relaxter Entspannung und chaotischer Anspannung. Wie schon Clausewitz anmerkte sucht der Mensch in Zeiten des Krieges Frieden und in Zeiten des Friedens Krieg. Die nicht berechenbaren Human Factors tragen schließlich auch dazu bei, dass Vernunft und Einsicht individuelle Auslegungen gesellschaftlich konsensfähiger Schlussfolgerungen sind. Wenn der "Leidensdruck" größer wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, über Alternativen nachzudenken und Trivialisierungen bzw. Vereinfachungen aufzugeben. Bevor man etwa den beschwerlichen Weg zu neuen Zielgruppen einschlägt, variiert man lieber kunstvoll die Ansprache der bestehenden in der Hoffnung, diese werde sich überzeugen lassen. Sunk costs sind die sehenden Auges entstehenden Effekte.

Kommunikationstarke Menschen und Regelbrecher sind m.E. gute Voraussetzungen, um in sozialen Systemen einen Bewusstseinswandel zu bewirken und damit eine Kultur der Unbestimmtheitstoleranz und des Experimentierens zu etablieren, um die Handlungsregie nicht vollständig abgeben zu müssen.

Viele Grüße aus Heiligenhaus

Walter Braun

Wenn wir die oben genannten Vorschläge einfach wörtlich nehmen, also etwas vereinfacht gesagt einfach nur alles anders machen, nicht auf die Machbarkeit achten, usw., dann führt das auch nicht zur Lösung. Es ist gefährlich Erfolgsfaktoren zu definieren, da es irgendwo geklappt hat, ohne zu sehen, wie oft genau diese Faktoren nicht geklappt haben. Selbst das so viel gelobte Beispiel des Steve Jobs lässt gern aus, was alles bei ihm nicht geklappt hat. Nichtsdestotrotz halte ich die genannten Argumente alle für wichtig.
Zu komplex ist etwas, wenn wir Zusammenhänge nicht erkennen oder unterschätzen. Die entscheidenden Informationen mit ins Kalkül zu ziehen durch Kommunikation, Erfahrung, Bauchwissen und gern auch Fragetechniken ist wichtig, aber Studien zufolge stoßen wir an Grenzen, wenn diese Aspekte sich gegenseitig bedingen. Von daher doch der Appell, ein Werkzeug zur Visualisierung und Analyse von vielen Faktoren zu nutzen.
Auch nach ganz anderen Wegen zu schauen birgt die Gefahr, die Vielzahl der zu berücksichtigenden Aspekte aus den Augen zu verlieren, weshalb besser ein Tool hinzugezogen wird.
Das Tool berechnet weder die Welt noch wird es uns die Entscheidung abnehmen - es hilft nur, mehr zu sehen und mit hoher Wahrscheinlichkeit besser zu entscheiden.
A fool with a tool is still a fool but facing complex challenges without a tool we are all fools :-)

Endlich komme ich dazu, einmal etwas zu dem anregenden und interessanten Blog beizutragen. Das Thema ist aber auch zu reizvoll. Es beginnt schon bei der Wortwahl: Komplexitätsmanagement. Lässt sich Komplexität wirklich managen, im Sinne von planen, organisieren, führen und letztlich der Kontrolle des Erreichungsgrades des vorher als Ziel definierten Erfolgs? Wenn man sich die oben genannten Gedanken und Denkfehler betrachtet, dann wird m.E. sehr schnell deutlich, dass man Komplexität nicht managen kann. Planen würde bedeuten, dass alle beeinflussenden Faktoren zunächst gesichtet werden (können) und dann in eine sinnvolle Reihenfolge der Abarbeitung gebracht werden können. Das aber schließt die Komplexität mit ihrer Denotation als "Eigenschaft eines Systems oder Modells, dessen Gesamtverhalten man selbst dann nicht eindeutig beschreiben kann, wenn man vollständige Informationen über seine Einzelkomponenten und ihre Wechselswirkungen besitzt" (Wikipedia) schon aus. Schon der Begriff Management gaukelt also eine Machbarkeit vor, die letztlich gerade der Komplexität per definitionem widerspricht. Insoweit handelt es sich m.E. also bei dem Begriff um die Zusammenfügung zweier Begriffe, die sich eigentlich widersprechen, ein Oxymoron.

Wenn gleichwohl von Komplexitätsmanagement gerade in der Wirtschaft gesprochen wird, so ist die Frage nach dem Grund der Verwendung des Begriffs wohl in der Sehnsucht nach einer allumfassenden Beherrschbarkeit zu suchen. Man will auch noch die Komplexität managen. Dies umso mehr, als, wie vielerorts beschrieben, die Komplexität (gerade technischer Produkte) in einem Ausmaße zunimmt, die frühere Generationen schlicht nicht für möglich gehalten hätten. Wie aber sind frühere Generationen mit der Komplexität umgegangen? Ich meine, sie haben schlicht nur einen so geringen Teil der Natur in Anspruch genommen, dass Komplexität entweder keine Rolle spielte oder waren viel mehr als heute bereit, die Komplexität - als Teil dessen, was nicht zu ändern war - einfach zu akzeptieren.

Das allerdings führt zu einem grundlegenden erkenntnistheoretischen Problemstellung mit der Frage, ob der Mensch schlicht nur noch nicht in der Lage ist, kraft seiner menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten die Welt mit ihrer Vielzahl von Beziehungen und Abhängigkeiten zu erkennen oder ob es solche Beziehungen und Abhängigkeiten in vielen Fällen gar nicht gibt, die Dinge also nur beliebig koinzident sind. Letztere wäre in ihrer Reinform die ontologische Komplexität vor der der Mensch nur kapitulieren kann, erstere wird mit dem Begriff der epistemologischen Komplexität beschrieben. Sie gibt die scheinbare Gewissheit, dass man nur lange genug forschen und komplexe Sachverhalte in ihre Einzelteile zu zerlegen muss, um dann zielgerichtet einen vorher definierten und gewünschten Erfolg erzielen zu können. Dies aber führt schon gedanklich zu dem paradoxen Ergebnis, dass Komplexität dann aufgelöst wäre und damit ihres Sinngehalts beraubt. Da sie aber gleichwohl als Phänomen existent bleibt, ist damit auch der Begriff der epistemologischen Komplexität ein weiteres Oxymoron, allerdings eines, das wegen seiner wissenschaftlich-philosophischen Begründung paradigmenbegründend ist. M.E. ist der Begriff Komplexitätsmanagement unmittelbar davon abgeleitet, mit fatalen Folgen für die Manager, deren Aufgabe es wäre, mit Komplexität umzugehen.

Lösen wir also zunächst das Grundproblem der antipodischen Sichtweisen der Komplexität als epistemologisches oder ontologisches Phänomen.

Die Lösung liegt m.E. irgendwo in der Mitte, im freundlichen „Sowohl als auch“. Wenn wir auch wissen, dass Komplexität jedenfalls zum Teil ein epistemologisches Problem ist – man denke nur an die unendlichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte in der Medizin, so sollten wir uns doch eingestehen, dass am anderen Ende der Skala immer ein Teil ontologische Komplexität stehen wird. Frühere Generationen haben das viel eher akzeptiert, und diesen Teil ihrer Wirklichkeit mit dem Numinosen beschrieben. Ontologische Komplexität bleibt ein Teilaspekt (und m.E. begriffsbestimmende Teil) der Komplexität und die damit beschriebenen Sachverhalte begriffsnotwendig unscharf.

Letztlich geht es also um die Frage, ob wir uns die Welt und letztlich auch die Wirtschaft als Uhrwerk vorstellen müssen, wie Newton (wohl epistemologisch orientiert) postulierte oder ob wir uns endlich mit Einstein mit dem Postulat der Relativität und damit einer gewissen (ontologischen) Unschärfe anfreunden wollen.

Die Vermutung ist, dass viele Manager, die sich mit dem Komplexitätsproblem in der Wirtschaft konfrontiert sehen, immer noch und immer wieder mit dem Paradigma der epistemologischen Komplexität das Problem lösen wollen, jener Chimäre, die in das Wort Komplexitätsmanagement mündete. Dass das nicht gehen wird, bin ich mir mit Walter Braun einig. Komplex ist eben nicht einfach nur kompliziert…

Nur – mit der Forderung nach den Innovativen in der Wirtschaft, den Querdenkern, vielleicht den Phantasten, den Bilderstürmern, kurz: den Anderen im Allgemeinen erscheint er – gerade vor dem Hintergrund der von Pelz beschriebenen sozialen Systeme – wie ein Rufer in der Wüste.

Ein ausgesprochen nachdenkenswerter Gedanke, dass aus der stillen Sehnsucht nach Beherrschbarkeit von Situationen der Drang nach Instrumenten zur Steuerung auch schwer durchschaubarer Probleme resultiert. Managen impliziert ja gewissermaßen Beherrschbarkeit.

Auch die Unterscheidung zwischen epistemischer und ontologischer Komplexität macht das Problem im Umgang mit solchen Situationen deutlich: Wir fühlen uns handlungskompetenter, wenn wir Unbestimmtheit reduzieren auf komplizierte und mit genügend Wissen beherrschbare Anforderungen. Die Heerschar der Machbarkeitsideologen in den Vorstandsetagen sind die logischen Konsequenzen dieser Denkstile. Der Positivismus des 19. Jahrhunderts hat hier seine Fortsetzung in der Neuzeit gefunden. Wirklichkeitskonstruktionen unter dieser Prämisse bringen aber eben auch Erkenntnisgewinnung und Fortschritt und nicht nur ein Scheitern mit sich. Nur: Wer ein Scheitern dem Konstruktivismus an die Seite stellt, weitwinkelt in meiner Bildsprache seine Sicht auf Optionen. Hier werden etwa für Maschinen- und Autobauer echte Paradigmenwechsel möglich. Je nach Größe des Unternehmens korreliert da die Innovation negativ mit basisdemokratisch geprägten Kulturen. Komplexität fordert gewissermaßen die Machtausübung weniger Meinungsbildner zum Anstoßen infragestellenden Denkens. Wenn dann ungeteiltes Wissen sich zusammenfindet und zu Tabubrüchen bereit ist, wird Komplexität nicht mehr epistemischer Natur gemäß behandelt, sondern zum Hefesatz multioptionaler Veränderungen auch stabiler Arbeitskulturen.

Schumpeter hat die kreative Zerschlagung von Traditionen als notwendige Bedingung von Wachstum als Prinzip einer Volkswirtschaft genannt und damit den Weg zum Umgang mit Komplexität beschrieben. Querdenker sind gewissermaßen die Impulsgeber ohne die es keinen Fortschritt geben wird. Übrigens: die Zukunftvisionen der Automobilbauer sind Indiz dieser mentalen Grundhaltung.
Besten Dank für die Impulse!
Walter

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