Im Schleudergang durchs Erfolgsleben - oder: Ein Plädoyer für mehr Bewusstheit

Walter Braun

Walter Braun

Die aktuelle Gesellschaft ist im Wesentlichen durch eins charakterisiert: Geschwindigkeit.

First mover und fast follower sind Strategiemarken, die die Grundlage von Ruhm und Ehre sind. „Schneller als die Konkurrenz“ tönt die Fanfare der leistungsgestimmten Elite, die dafür den Preis schlafloser Nächte und innerer Leere zu zahlen bereit ist.

 

Licht und Schatten der Moderne

 

Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte wechselten öfter Arbeitnehmer ihre Jobs, Liebespaare ihre Partner und Berufe ihre Bedeutung. Kurzlebigkeit ist zur Normalität geworden. Junge Leute quälen sich nicht mehr mit langen Texten, sondern zelebrieren eine exzessive asap-Kultur. Eine epidemisch verbreitete Whatsapp-Community palavert im Sekundentakt Belanglosigkeiten und huldigt Katzenvideos mit geradezu kindischer Exaltiertheit. Genuss jetzt und nicht morgen! Eine Mentalität des Haben Wollens und Dall Dalli kennt keine Impulskontrolle. Vorgesetzte favorisieren lieber schnelle als langfristige Erfolge. Shareholder erwarten schließlich Gewinnmeldungen, keine –warnungen. Und Mitarbeiter planen ihre Meriten auf Kosten anderer. Optimierung auf Teufel komm raus. Das hat natürlich Konsequenzen: Mit den Effizienzgewinnen steigen die Sinnverluste. Wenn Schnelligkeit Vergangenheit auffrisst und Zukunft ignoriert, fehlen Koordinaten zum Innehalten und Querdenken. Andererseits: Digitalisierte Prozesse füllen den Renditetopf, disruptive Geschäftslogiken festigen die Zukunftsfähigkeit. Ja, selbst Machbarkeitskulturen weichen immer häufiger kollaborativen Arbeitsformaten und Experimentierfreude wird mit Positionsgewinnen belohnt. Alles gut! Oder ? Nicht so ganz.

Das hohe Maß an Macher- und Individualisierungskultur gibt Psychopathen und Alpha-Männchen freie Bühne oft zu Lasten eines dauerhaften Erfolgs. Selbst die Weltordnung gerät aus den Fugen, wenn irre Egomanen auf ihren Machtsesseln trotzig um die Wette zwitschern. „America first“ wird zum Synonym für eine entfesselte Ich-Ideologie und Ellbogenmentalität. Der Egoismus Weniger lähmt jeden Arbeitsprozess und treibt die vielen Anderen in tiefe Verzweiflung. Die Gruppe verliert trotz Kollaboration an Synergiewirkung und ihre adaptive Kompensationskraft für den Ausgleich von Schwächen.

Depressive Störungen sind laut Techniker Krankenkasse 2015 um 69 % gestiegen. Der Schlafforscher Weeß (2016) schätzt einen jährlichen Verlust der Volkswirtschaft von 26 Milliarden Euro infolge von müdigkeitsbedingten Arbeitsunfällen, Fehlzeiten und Produktionsfehlern. Eine Forsa-Studie deckte 2017 auf, dass mehr als die Hälfte der Deutschen nicht einmal am Wochenende hinreichend entspannen kann. Die Flut von leistungssteigernden Präparaten katapultiert die Pharmaindustrie in schwindelnde Umsatzhöhen, frisst aber langfristig ihre kurzfristig stimulierende Wirkung auf. Ich-erschöpfte Menschen tun keiner Wirtschaft gut.

 

Fremdbestimmte „Selbstverwirklichung“

 

Der permanente Schleudergang des Erfolgsmotors unterdrückt jedes Nachdenken über Sinn, Werte und Authentizität. Funktionieren ersetzt Experimentieren und suggeriert Zuversicht in die eigene Wirksamkeit. Man hat’s zu was gebracht. Ach ja, gescheiterte Partnerschaft, verhaltensauffällige Kinder, Herzrasen und Magengeschwüre. Sei’s drum! Wer hat die nicht, schließlich sind das die Trophäen der Erfolgreichen. Selbstoptimierung hält den Glauben an sich aufrecht. Gadgets melden sinkenden Blutdruck und die Temperatur im Haus - eingeleitete Maßnahmen inklusive. Paradoxerweise gaukeln sie Selbstbestimmung vor, entfremden aber zunehmend den Nutzer von sich selbst. Fällt das Gerät aus, ist die Panik groß und sein latentes Sucht-potenzial sichtbar. Die individuelle Freiheit zur Selbst-optimierung betrachtet der Gesellschaftsphilosoph Sandel von der Harvard University als Ursache eines hemmungslosen Konsumierens, das den Gemeinsinn erodieren und Bürger zu

„entmächtigten Opfern“ ihres Erfolgs werden lässt. Big Data Konzerne wissen, wer wie lange wo sich aufhält. Sie kennen Schwächen, Vorlieben, Wünsche und Geheimnisse ihrer Kunden, von denen diese selbst kaum etwas ahnten. Der Mensch die Summe aggregierter Daten und Objekt unbekannter Algorithmen – grauslich schöne neue Welt.

Nun ist es nicht so, dass dieser toxische Lebensrhythmus den Getriebenen unbekannt ist. Es ist ihm nur schwer beizukommen. Menschliche Neugier, faktische Verfügbarkeit, nützliche Praktikabilität, entlastende Gewöhnung, leichte Verführbarkeit und die Phänomene der Massenpsychologie ersticken das korrigierende Nein-Sagen und nähren signifikant die Bereitschaft zum getunten Verhalten. Der nächste Schleudergang ist gewissermaßen schon vorgegeben. Das Tröstende findet sich allenfalls in guten Vorsätzen, die aber pflastern bekanntlich den Weg zur Hölle.

 

Reflektion als Dauerauftrag

 

Evident sind die Folgen. Eine Reihe von Studien belegt die von Rosa 2005 vorgelegte Theorie der sozialen Beschleunigung. Menschen, die Arbeitsverdichtung, Zeitknappheit und rasante Technologiefortschritte in ihrer Realität erleben und als Belastung bewerten, neigen zu depressiver Verstimmung, emotionaler Erschöpfung und sozialer Isolation. Der Sprachwitz wird Realität: „Wer schneller lebt, ist früher fertig“

Es ist Zeit, das zu begreifen, und menschengerechte Lebensformate zu etablieren, ohne den Fortschritt zu behindern. Techniken und Technologien sind nur die Keilriemen für das Höher-Schneller-Weiter-Dogma. Erst ihr unbewusster und unreflektierter Gebrauch ist die Ursache des Phänomens Geschwindigkeit. Auch Untergangsgeschrei und Zukunftshymnen adressieren nur Maschinestürmer und Disruptionsnerds. Um diese Lautsprechergruppen geht es nicht. Die Gesellschaft braucht vielmehr Menschen, die ausgewogen bewerten. Die zum Gelingen ihrer persönlichen Reifung dadurch beitragen, dass sie Vorteile Nachteilen gegenüberstellen, Wirkmechanismen und Abhängigkeiten erkennen, Positionen von Interessen scheiden, vom Ende her denken und einfachen Antworten skeptisch gegenüber sind.

Schnelligkeit ist kein Gut an sich. Erst im Kontext von Begründungen findet sie ihre Berechtigung. Ist sie etwa erforderlich, weil Zögern unwiderruflich eine wichtige Chance verhindert? Oder ist sie eine impulsgesteuerte Reaktion auf eine belanglose Aufforderung Dritter? Dabei sein zu wollen, eine Rolle zu spielen, Geltung zu erfahren sind mächtige Antreiber: so sehr, dass Facebook & Co ihren Datenhunger von ihren Nutzern bereitwillig unterstützt erst richtig ausbreiten konnten. Zusammenhänge erkennen, setzt Lernen voraus. Ein Lernen bei dem man sich beobachtet und sein Denken reflektiert, um herauszufinden, was Sinn gibt und welche Muster beim Fühlen und Denken auftreten, wenn man etwas aufgibt oder beibehält. Illusorische Wünsche werden ebenso bewusst wie das zufriedene Grunzen des inneren Schweinehundes.

Die emotionale Bewertung der Wirklichkeit legt Lust und Unlust frei, die oft intuitiv zum individuellen Verhalten in spezifischen Situationen verführen. Wenn sich erst Fühlen und Denken verändern, verändern sich auch Situationen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben. Technische Errungenschaften konvertieren dann vom Brandbeschleuniger zum praktischen Gehilfen. Sie nützen dabei nicht mehr nur theoretisch, sondern auch praktisch. Google etwa verkürzt Recherchezeit und schafft den Freiraum, die gewonnene Zeit für sich zu nutzen und nicht weiter mit fremdbestimmten Aktivitäten zu verdichten, wenn man das von Herzen möchte und sich darauf konzentriert.

 

Mit Selbstführung der Selbstentfremdung vorbeugen

 

Die Angewohnheit, alles aufzuschieben, pausenlos push-up Nachrichten auf dem Handy abzurufen und überall dabei sein zu wollen, kann man loswerden, wenn man sich konkrete Ersatzhandlungen vornimmt: z.B. Wichtiges sofort erledigt, dem Treiben der Vögel mit stiller Freude folgt oder bewusst eine nur mäßig interessante Einladung absagt. Es ist ein Leichtes, sich an Kleinigkeiten zu erfreuen. Man muss es nur zulassen und die angenehmen Gefühle dabei genießen, um es dann immer öfter zu tun. Von der antreibenden Hektik zu lassen, ist nichts weiter als Laune machende Alternativen zu entdecken. Einmal Beine hochlegen kompensiert 1000 Likes. Öfter darüber nachdenken,

 + was zählt für mich wirklich,

+ was macht mich glücklich und

+ wie schaffe ich den Sprung zu mehr Lebenszufriedenheit

lässt Antreiber & Co ins Leere laufen und stärkt die inneren Ressourcen wie etwa Optimismus, das Empfinden von Selbstwirksamkeit und Authentizität.

Diese Form der Selbstführung bedeutet hartes Arbeiten an sich selbst und ist mit Anstrengung verbunden. In den meisten Fällen geht es darum Gewohnheiten aufzugeben und Denkhaltungen zu korrigieren. Nach dem Muster, „Das Neue ist der Feind des Alten“, wehrt sich unser Inneres vor Veränderungen zumal man noch nicht vertraut ist mit den erforderlichen Alternativen. Bevor es sich der Gefahr des Scheiterns aussetzt, will es vom Nutzen überzeugt sein. Genau darin liegt die Tür zur Überwindung von Trägheit und Impulsen. Wir müssen anfangen, an kleinen Beispielen zu üben und Erfahrung zu sammeln. Mit Entspannungstechniken, Emotionskontrolle, Vorsatzbildung, Selbstmotivation und Impulskontrolle können wir dazu kommen, mit maximaler Zufriedenheit Alternativen aufzubauen und ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen – und bewusst technische Unterstützung hier zu nutzen und dort nicht, hier Gas zu geben und dort zu bremsen, hier Ja zu sagen, dort Nein.

Reflektierte Selbstführung schafft Kompetenz, Verantwortung für das eigene Tun und Lassen zu übernehmen. Sie emanzipiert Menschen von den Einflüsterungen Dritter und erleichtert ihnen trotz Unsicherheit , für das unaufgeregt einzustehen, wofür sie sich entschieden haben. Sie handeln im Einklang mit sich selbst. So entsteht eine Gelassenheit, die die Liedermacherin Joana mit unnachahmlichem Kurpfälzer Charme auf den Punkt bringt: „...lebscht gebremst oder lebscht dsl, am End vun de Nacht werds doch widder hell...!“.

Kommentare

Medizinische Vorsorgeuntersuchung und gesunde Ernährung gehören für viele zur Routine. Innere Haltung und bei sich sein iwird jedoch eher als esoterischer Kram abgetan. Da muss man sich nicht wundern, dass psychische Störungen zunehmen.

Der Hamster im Rad rennt deswegen immer weiter bis zum bitteren Ende, weil er von allen Seiten Applaus erhält. Schluss mit dem Loben von Selbtsausbeutung. Vorgesetzte müssen da Verantwortung übernehmen und z.B. Überstunden verbieten, E-Mails auf feste Zeiten begrenzen etc.

Ich darf es mir erlauben, langsam zu sein! Dieser Glaubenssatz schützt mich seit Langem vor ansteckender Umfeldhektik. Ich muss auch nicht überall im Mittelpunkt stehen, um mich "gut" zu fühlen. Öfter die stummen Glaubenssätze überprüfen!

Nach dem Nobelpreisträger Kahnemann ist die Verlustaversion ein mächtiges Motiv, beim Althergebrachten zu bleiben. Es geht nicht darum, etwas nicht mehr zu tun, sondern den Sinn von neuen Verhaltensweisen zu entdecken. Wie Sie wissen, folgt unsere PE dieser Erkenntnis

Letztes Jahr habe ich überprüft, mit welchen Tätigkeiten ich meine Freizeit verbringe. Das erschreckende Ergebnis: überwiegend Berufliches. Seit ich das geändert habe, hat das Gefühl der Hetze Gelassenheit und Ausgeglichenheit Platz gemacht

Wer immer im Stand by-Modus ist, braucht sich über den leeren Akku nicht wundern.Ein Nein, Danke! Lädt mehr Energie auf als es Überwindung kostet, es zu sagen. Ein Kompass und leichtes Gepäck machen fremde Wege ohne Mühe begehbar. In unserer betrieblich geförderten Erfahrungsgruppe haben wir u.a. zwei Fragestandards: "Wonach ist mir?" und "Was kann ich dafür tun?"

Bewusstsein ist ja gut und recht, aber genau das führt zum Gefühl, zu kurz zu kommen, wenn alle anderen an einem vorbeiziehen. Erst wenn das einen nicht stört, entsteht Gelassenheit dem Treiben drumherum.

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