Überschätzte Digitalwelt - warum auch in einer komplett gedrehten Arbeitswelt der Mensch das Maß ist

Walter Braun

Von Walter Braun

In der aufgeheizten 4.0 Debatte rutscht der Mensch immer mehr als Fossil einer alten Wirtschaft ab in eine wegdigitalisierte Bedeutungslosigkeit. Wirklich? Wird er nicht viel eher wie ein Phönix aus den disruptiv gewandelten Geschäftsmodellen aufsteigen, weil 0-1 Logiken nur der effizienzgetriebene Teil eines auch weiterhin sozialabhängigen Wirtschaftssystems sind? Ich meine, es lohnt sich, darüber etwas länger nachzudenken.

Der Genius Mensch als einzige Konstante einer Veränderung

Menschen sind ein gewichtiger Faktor für ökonomisches Wachsen schlechthin und prägen mehr als Managementsysteme Wert und Image eines Unternehmens. Dieselskandal, Abgastests mit Affen, Tarnen, Täuschen und Bestechen sind Ergebnisse menschlicher Hybris. Compliance-Regeln verkommen zum Potemkinschen Dorf eines geschlossenen Eliteclubs und ihres kollektiven Versagens. Das Handelsblatt spricht am 30.01.2018 in diesem Zusammenhang von systemrelevanter Elitenverwahrlosung. Andererseits kämpfen Menschen kollektiv für den Erhalt von Arbeitsplätzen, tüfteln an faszinierenden Innovationen, schaffen Mehrwerte durch selbstloses Engagement, entwerfen kühne Zukunftsvisionen und tragen mutig riskante Entscheidung und korrigieren sie bei Bedarf. Sie gehen bis an die Schmerzgrenze, nicht, weil sie organigrammtechnisch und monetär dazu verpflichtet sind, sondern weil sie Sinn und Wertschätzung in ihrer Arbeit erleben. Welche Perspektive man auch immer wählt: Menschen setzen die Maßstäbe – unberechenbar, aber verlässlich.

Der digitale Code ist strohdumm

Der Mensch bleibt alleine schon durch seine Anwesenheit in der Welt ein Schlüsselfaktor der Wirtschaft. Zwar arbeiten Algorithmen Aufgaben ab, die gestern noch von Menschen erledigt wurden, ist die Roboterisierung der Fertigung mittlerweile Standard, drängen immer mehr humanoide Roboter in auch soziale Arbeitswelten und übernimmt die künstliche Intelligenz unschlagbar präzise die Auswertung noch so großer Datensätze, sie kann sogar selbst lernen und den eigenen Code weiterentwickeln. Ändert man aber nur einen Umfeldparameter, der nicht im Quellcode vorgesehen ist, sind Algorithmen dumm wie Stroh. Ihre Kreativität bleibt eindimensional begrenzt auf das, was der Programmierer vorgesehen hat, und wird von der intuitiven Kraft des Menschen vom Platz gefegt.

Jedes digitale Geschäftsmodell wird erst hinreichend gut gelingen, wenn es von Menschen gehegt und weiterentwickelt wird. Big Data Analysen von Maschinen brauchen den Genius Mensch zum schlussfolgernden Handeln. Komplexität zwingt zur Perspektivenvielfalt und Kollaboration, beides aber wird ohne menschliche Bereitschaft dafür zum Rohrkrepierer. Ambitionierte Ziele und Out-of-the-box-Denken stehen und fallen mit dem Mut und der Freude am Experimentieren. Mit unerwarteten Situationen klar zu kommen, heißt, psychisch stabil und proaktiv darauf reagieren zu können. Kein Rechner kann Seele!

Menschen: Hintergrundrauschen und Treiber jeder Transformation

Disruptives Denken, Innovationsfähigkeit, Digitalisierung und Automatisierung, Marketing und Führung und was man je nach Absicht noch an Schlüsselfaktoren für Wirtschaftswachstum zu hören bekommt, sind sicherlich notwendig, keine Frage, aber hinreichend noch lange nicht. Erst, wenn Menschen als Treiber und Kraftwerk des Unternehmens ihre Rolle einnehmen, werden Schlüsselfaktoren wirken. Erst, wenn ökonomische Prinzipien der Wertschöpfung grundiert werden mit den Wesensheiten von Menschen, kommen sie zur Geltung. Und erst, wenn Vertrauen in die Menschen vorbehaltlos investiert wird, gelingt die Transformation des Alten in Neues.

Gewiss: Jobs werden wegfallen und wohl schneller und in höherer Zahl als Wirtschaft und Gesellschaft es gewohnt sind. Denn alles, was standardisier-, automatisier- und digitalisierbar ist, unterliegt diesem rasanten Jobwandel. Nicht nur einfache oder Assistenzaufgaben werden erodieren, auch bislang Experten vorbehaltene wird es treffen. IBMs Watson beweist schon heute, dass selbst Wissenschaftler etwa bei der Analyse von Klimadaten, Epidemieverläufen oder Hirnscans überflüssig sind.

Man muss auch keinen ideologischen Streit  vom Zaune brechen und den Untergang der Arbeitswelt menetekeln, wie es gelegentlich eigenverliebte Evangelisten tun. Dass sich Arbeit rasant verändert, ist mittlerweile eine Binse. Genauso eine Binse ist, dass es mindestens genauso viele neue Jobs geben wird. Die Ambition liegt jedoch darin, mit der Geschwindigkeit des Wandels zurechtzukommen. Es ist auch gleichgültig, ob man den Umbruch der Arbeitswelt pessimistisch oder optimistisch sieht, denn es bleibt die Erkenntnis: vor, während und nach (radikalen) Umbrüchen sind weiterhin Kreativität, Pioniergeist und Weitsicht die Anforderungen an eine gelingende Arbeitswelt. Diese Faktoren werden absehbar nicht von Algorithmen gewährleistet.

Strukturtabus karikieren jeden Fortschritt

Branchen- und weltweit stecken wir in der Transformation von alten in neue Geschäftsmodelle und dort, wo es noch nicht so sichtbar wird wie vielleicht in Handwerksbetrieben, Bildungseinrichtungen oder kleinen Herstellbetrieben, wird es absehbar der Fall sein. Was in der aktuellen Umbruchsituation jedoch besorgniserregend ist, sind die Konzepte und Denkweisen von vorgestern, die zur Bewältigung dieser nie dagewesenen Herausforderung bevorzugt werden.

Wortreich gelangen digitale Strategien und Tools auf die Agenden der Erfolgsfaktoren, werden reihenweise digitale Themen ins alte Korsett gestrickt und Agilität und Kollaboration gefordert. Wie Pawlows Hund, sondern die Protagonisten der Disruption aber immer nur ein Mehr vom Gleichen ab, ohne signifikant etwas zu bewirken. Das hat wohl auch damit zu tun, dass strukturkonservatives Handeln attraktiv ist, weil es Budget sichert und damit Macht. Berichtswege bleiben heilige Kühe, Karrieren von unten nach oben gedacht (auch Projektkarrieren sollten nicht darüber hinwegtäuschen) und Maßnahmen von gestern aufgehübscht – interdisziplinäre Gruppenarbeit wird zum Design Thinking oder Scrum. Ungerührt proklamieren HR-Granden ein neues „Mindset“, ohne den Zement der Strukturtabus aufzumeißeln.

Jedes technische System hat eine Resetfunktion, also auch ein soziales. Und da liegt schon der erste Denkfehler: Man setzt soziale mit technischen Prozessen gleich. So wundert es nicht, dass die neue Arbeitswelt technisch optimal vorbereitet, Ressourcen dafür eingekauft, Pflicht- und Lastenhefte erstellt und Frühwarnradare installiert werden. Die daraus resultierende Machbarkeitsillusion führt bei jedem Paradigmenwechsel auf direktem Weg zur Selbstblockade.

Strategiewechsel im Denken und Handeln einleiten

Wenn wir aber wissen: Ohne den Menschen ist alles nichts, warum

  • definieren wir nicht explizit die Rolle des Menschen in der aktuellen und künftigen Arbeitswelt,
  • verabschieden wir uns nicht von Hierarchiestrukturen zugunsten von Gruppenformaten,
  • ersetzen wir nicht Wenn-dann-Ideologien mit systemischen Ansätzen,
  • transformieren wir nicht das Seminar(un)wesen in arbeitsimmanentes und selbstbestimmtes Lernen,
  • helfen wir Menschen nicht, mit ihrer „multioptionalen Orientierungslosigkeit“ zurechtzufinden,
  • fördern wir nicht Experimentierfreude und den Mut zum Out-of-the-box-Denken,
  • verhindern wir nicht kopfloses und herzloses Agieren in Krisen durch systemisches Planen und Handeln oder
  • verorten wir Menschen in ihren Funktionssilos, anstatt sie als Teil von vernetzten Einheiten zu positionieren?

Wohl deswegen nicht, weil alles zusammen unweigerlich zum Systemoverload führt und weil hierarchiebezogenes Steuern und Sanktionieren immer noch einer vertrauensabhängigen Selbstverantwortung und Proaktivität des Einzelnen vorgezogen werden.

Alles zusammen muss aber gar nicht sein. Weniges ist tatsächlich mehr. Und Kontrolldogmen können alleine schon aus Vernunftgründen aufgegeben werden, weil Silos definitiv komplexitätsfeindlich sind.

Mag die Veränderung für den einen oder anderen Betrieb auch schleichend sein, sie zwingt jeden aber zur Mensch-System-Integration. Kein Algorithmus gebiert Kreativität und Sinn. Es sind Menschen, die den Fortschritt tragen. Ihre Spontaneität, Verantwortungsbereitschaft, Initiative, Intuition, Gedanken, Erfahrung und Experimentierfreude verhelfen Neuem auf die Sprünge. Das war so gelegentlich in der alten und ist der „Code“ auch in der neuen Arbeitswelt.

„Mensch mach hin! Alles wartet deinetwegen!“

Es bedarf keines großen Aufwands und keiner Kongressbekenntnisse, dem Menschen auch zur ökonomischen Bedeutung zu verhelfen. Der Kraftakt besteht lediglich darin, es zu tun.

Denn es ist auch pragmatisch und rational betrachtet klug,

+ Digitalisierung nicht allein auf Effizienzgewinne auszurichten, sondern die daraus resultierenden Aufgabenveränderungen in menschengerechte Szenarien zu überführen,

+ neue Arbeitsformate und Work Designs nicht allein wegen eines gewandelten Zeitgeistes einzurichten, sondern den Einstellungen und Werten der Mitarbeiter anzupassen. Denn was bringen Designermöbel und Begegnungsflächen in einer Bonuskultur an Einstellungswandel?

+ Seminarkataloge dem Fossilienarchiv der old-school HR zu übergeben und kreativ Formate eines arbeitsimmanenten, selbstgesteuerten und Erfahrungslernens zu entwerfen,

+ Aufgaben und Menschen aufeinander abzustimmen, um Effizienz zu gewinnen und Frust zu verhindern. Denn Menschen lassen sich nicht instrumentalisieren, sie wählen die Arbeit, die ihren Wachstumsbedürfnissen entspricht,

+ Hohlbegriffen (digitales Führen & Co) entweder nachvollziebaren Inhalt zu geben oder in den Phrasentrog zu werfen – wenn darin noch Platz sein sollte und

+ vernetztes Denken, Selbstführung und Lernbereitschaft als nicht verhandelbare Kompetenzen zu betrachten, weil Menschen erst damit ihre fachliche Exzellenz in eine veränderte Arbeitswelt einbringen können.

 

„Mensch mach hin! Alles wartet deinetwegen!“

 

 

 

Kommentare

Digitalisierung als Götzen der Effizienz zu verehren, ist genauso falsch wie sie zu ignorieren. Sie notwendiger Teil der UE. Aber und da trifft Ihr Block den Kern: sie gelingt erst vollständig, wenn die Einstellung ihr gegenüber neutral ist. Denn dann wächst uns die Komplexität nicht über den Kopf, sondern regt uns zum Umdenken an.

Solange Algorithmen nicht verstehen, was sie machen, mache ich mir keine Sorgen um die Bedeutung des Menschen für die Arbeit.

Veränderungen, ob disruptive oder nicht, sind nur systemisch zu betreiben. Leider hängen noch zu viele Manager einer (wie Sie es mal nannten) Machbarkeitsillusion an. Berater haben daran eine gewisse Mitschuld, weil sie gerne Wenn-Dann-Erfolge ihren Ratschlägen unterlegen, anstatt auch das Misslingen als möglich zu betrachten.

"Entweder wir ändern unser Geschäftsmodell radikal oder wir lassen's und verprassen, was wir haben!" Das war die Ansage eines Formenbauers als er seinen Betrieb mit 3D-Druckern ausrüstete, sich dem landesweiten Netzwerk dafür anschloss und Banken und Mitarbeiter von seinem Konzept überzeugte. Kein leichtes Unterfangen, aber auch Revolution geht. Es müssen nicht immer kleine Schritte sein, um die Unternehmenszukunft zu sichern! Wir haben das alles mit offenem Mund als Nachbarn erst mit Kopfschütteln, nach einem halben Jahr dann mit Interesse und jetzt ein Jahr danach mit großem Respekt und immer noch offenem Mund quittiert.

Dass der Mensch hin machen soll, ist ja gut. Der macht aber erst dann hin, wenn er darf und kann! Bis das soweit ist, müssen noch viele alte Zöpfe angeschnitten werden. Einer davon ist das Führungsverständnis. Dem Menschen kommt erst dann die geforderte Bedeutung zu, wenn er nicht zwischen Vorschriften und Zeichnungsberechtigungen zerquetscht wird. D.h. Solange funktions- und hierarcheabhängig ein Unternehmen aufgestellt ist, wird's nichts mit dem Bedeutungsgewinn. Da werden alle noch lange auf ihn warten.

Klasse Anregungen! Der Mensch bleibt ja noch am Leben und Betroffener. Man kann nur wünschen, dass möglichst viele die Regie für die unausweichliche Transformation der Arbeit übernehmen und nicht "wegdigitalisiert" werden. Das beste Mittel dafür: hohe Lernbereitschaft und Verändetungswille. M. M. nach stehen wir an der Schwelle zu einem völlig neuen Verständnis von Arbeit. Erwerbsarbeit wird deutlich an Substanz verlieren und von automatisierter ersetzt werden. Und wenn die Wertschöpfung hauptsächlich von Algorithmen übernommen wird, werden Formen des bedingungslosen Grundeinkommens nicht mehr fern sein.

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