Wir können Komplexität nicht besiegen, aber uns darauf einstellen

System Management

Von Walter Braun

Populäre Begriffe wie systemisch, komplex, vernetzt, dynamisch werden gern als Ausrede für gescheiterte Projekte benutzt, signalisieren sie doch die Grenzen der klassischen Vorgehensweisen in schwierigen Projekten. Ganttdiagramme, Sankey-Methoden, krititsche Pfade oder andere Klassiker der Managementmethoden helfen eben nicht, mit schwer durchschaubaren Situationen und dynamischen Veränderungen klarzukommen. Auch schlaue Ratschläge, was man lassen und dagegen tun sollte führen nicht weiter, weil es für das Meistern von Komplexität keine Blaupausen gibt.

Komplexe Situationen sind deswegen komplex, weil sie immer wieder einmalig sind und deswegen immer wieder neue Ideen und Vorgehensweisen erfordern. Im Unterschied zu komplizierten Problemen wie etwa das Entwickeln einer neuen Antriebstechnik, die man mit Ansammeln und Generieren von Wissen lösen kann, ist es bei komplexen ratsam, bei Null anzufangen und der Erfahrung abzuschwören. Ja, die kann sogar schädlich sein, weil sie zum Beibehalten von Gewohnheiten verführt.

Auch wir, die Berater, helfen kaum weiter, wenn wir fordern, quer zu denken, Muster zu erkennen, Perspektiven zu wechseln. Denn wann, warum und wie soll das geschehen oder wie soll das auch gelingen, wenn die Denk- und Arbeitskulturen in den Unternehmen dies alles kaum zulassen? Berater müssen sich entfernen von der Rolle des Wissenden und selbst bereit sein, Misserfolg in Kauf zu nehmen und viele Experten in die Beratungsarbeit zu integrieren. Für Great-Man-Verliebte geradezu Teufelszeug!

Komplexität resultiert aus Unbestimmtheit, vielen von einander abhängigen und kaum berechenbaren Merkmalen, die von unvorhersehbaren Ereignissen beeinflusst und sich äußerst volatil verhalten. Das schließlich beherrschen zu wollen, ist egomaner Hochmut hoch zwei! Darauf sich einstellen und sich fit machen, sind jedoch praktikable Anfänge. Denkgewohnheiten aufgeben, Arbeit partizipativ strukturieren, systemisch an Stelle Schritt für Schritt handeln, von Lösungsdogmen sich befreien, flexible Strukturen einführen. So könnten Trainingseinheiten für das Fitnessprogramm zum Umgang mit Komplexität lauten.

Für manche Unternehmen bleibt aber nicht mehr viel Zeit zum Üben. Gerade herstellende Betriebe stehen ziemlich hilflos vor der dramatisch zunehmenden Dematerialisierung der Industrie und damit dem Verschwinden ganzer Produktbereiche. Wer gestern noch Filmzelluloid produzierte, Zylinderblöcke goss, Bleuelstangen drehte, Glühbirnen fertigte oder Fahrzeugschlüssel herstellte, wird morgen möglicherweise Arzneimittel entwickeln, Solaranlagen planen, Medizintechnik entwickeln oder Halbleiter- und Softwarespezialist sein. Der Wandel hat rasant Fahrt aufgenommen und führt zu radikalen Umbrüchen, zur „kreativen Zerstörung“ bestehender Geschäftsmodelle ganz im Sinne des alten Schumpeter.

Komplexitätsrobust werden heißt vor diesem Hintergrund, sich zu trainieren und sich daran zu gewöhnen,

  • Know-how zu teilen,
  • in flexiblen Gruppenstrukturen zu arbeiten,
  • vernetzt zu denken und zu handeln,
  • den Denkstil „alles ist machbar“ aufzugeben,
  • Planungsideologien abzuschwören,
  • nicht zu schnell mit plausiblen Lösungen zufrieden zu sein,
  • systemische Methoden (etwa Sensitivitätsanalyse) einzusetzen,
  • „rückwärts“zudenken,
  • Szenarien zu simulieren,
  • Crowdsourcing zu initiieren
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Aber auch das bietet keine Garantie für das Beherrschen von Komplexität, immerhin jedoch ein gutes Trainingsfeld, um sich darauf vorzubereiten und sich selbst, die Arbeitsstruktur und –kultur zu innovieren und komplexitätsrobust zu machen.

Kommentare

Toller Beitrag. Nicht nur für den Tooleinsatz ist folgendes Modell zu Voraussetzungen und Hindernissen eines Kulturwandels interessant: https://www.know-why.net/model/AA5vOj_aOZDVFZ-aYnCYZyw Umgekehrt ergänzt dieser Beitrag auch das Modell.

Hallo Herr Neumann, vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihren Hinweis auf das Simulationsmodell eines Kulturwandels. Ein sehr anschauliches Beispiel für das Sensibilsieren für komplexe Situationen. Solche Simulationssoftware ist wirklich sehr gut geeignet, Zusammenhänge verstehen und Neben- und Fernwirkungen identifizieren zu können. Davon gibt es leider noch zu wenig programmierfreie Tools. Neben Ihrem Modeler kenne ich als pragmatisch angelegte, empfehlenswerte und auch "Laien" zugängliche Werkzeuge nur noch HERAKLIT und Vensim. Kompliment übrigens für Ihr starkes Engagement zum vernetzten Handeln in Schulen und Jugendeinrichtungen.
Viele Grüße aus Heiligenhaus
Walter Braun

Neben den Menschen müssen sich auch die Strukturen ändern. Formen von Gruppenarbeit mit verschiedenen Know how-Trägern sind dafür angemessene Arbeitsformate. Formal dürfte das alles kein Problem sein. Allein der vorherrschende Mindset "es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen" zeigt, welche Einstellungshindernisse noch überwunden werden müssen. Diesem Ansatz folgen kaum die Verantwortlichen, die lieber von morgens bis abends darüber nachdenken, wie sie die Prozesse noch mehr optimieren, die Ziele noch anspruchsvoller definieren und die Märkte noch tiefer infiltrieren können. Und das alles im Command & Control-Modus.

Komplexität wird durch Vertrauen auf die Macht der Vielen ertrag- und steuerbar. "Viel" heißt: viel gebündelte Kompetenz. Die kommt dann zur Geltung, wenn sie von auf die Komplexität vorbereiteten Mitarbeitern als heuristische Grundlage für das "Out of the Box"-Denken genutzt wird. Aus den fest verdrahteten Denkschablonen rauszukommen, braucht neben dem Mut für Außergewöhnliches eben auch Raum zum Trainieren, Simulieren und thematischen Vagabundieren. Da teile ich voll die Anregungen im Blog.

Bevor alle Welt Komplexität schreit, sollten wir erst einmal schauen, was die konkrete Situation charakterisiert. Weniger schnell in Lösungen denken und sich mehr Zeit zum Reflektieren nehmen, hilft nämlich, nicht die immer gleichen Fehler zu machen und gute Begründungen für komplexitätsgerechte Vorgehensweisen zu finden. Nicht alles ist komplex und muss mit "lateralem" Vorgehen gelöst werden. Aber wenn komplex, dann sind darauf eingestellte Mitarbeiter echte Assets. Ob das aber schon Common Sense ist?

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