Arbeit x.0! aber wo bleibt die Kultur dafür?

Walter Braun

Von Walter Braun

Wie die technische die soziale Transformation degradiert und warum gerade der Mittelstand dies vermeiden kann.

 

Der Wandel der Wirtschaft ist mit nie dagewesener Dynamik in allen Sektoren spürbar. Dabei wird ein Phänomen sichtbar: das der zwei Geschwindigkeiten. Technische und kulturelle Veränderungen laufen nicht mehr synchron. Die erstere galoppiert immer schneller voran und degradiert mit ihren eindrücklichen Fortschritten die Notwendigkeit der zweiten. Verheißungsvoll weckt sie Begehrlichkeiten. Jedes Invest in den technischen Fortschritt, ist ein rentierliches. Die Trägheit im Mitnehmen der Menschen auf diesen Hochgeschwindigkeitskurs wird dabei kaum mehr registriert und wenn überhaupt, zweitrangig gesehen.

Technischer Fortschritt bestimmt den Fokus

Immer mehr Industrieroboter vervollkommnen die effizienzgetriebene Fertigung auf höchstem Niveau. Digital aufgerüstete Kunden- und Warenwirtschaftssysteme treiben die Automatisierung in kaum mehr steigerbare Höhen. Und digitale Geschäftsmodelle disruptieren in Ehren ergraute Marktkonzepte und übertragen unbekümmert bislang von Menschen erledigte Jobs an Algorithmen. Mit dem Fortschreiten der Künstlichen Intelligenz, insbesondere selbstlernender neuronaler Netze, sind die technologischen Potenziale bei Weitem noch nicht am Ende ihrer dominierenden Rolle für die Wirtschaft. Längst sind Telearbeitsplätze, vernetzte Arbeitsstrukturen, ja sogar holakratische Arbeitsformen old school und auf den Kopf gestellte Arbeitswelten oder eine neu adressierte Erwerbsarbeit vertraut gewordene Debattenbeiträge.

Riesige Datenmengen im Verbund mit raffiniert programmierten Algorithmen und gigantischen Rechnerkapazitäten verlocken zur akribischen Spurensuche nach maximaler Transparenz von Marktmechanismen, Verhalten und der Offenlegung intimster menschlicher Bedürfnisse. Und die Rechner liefern. Google und Co. leben wie die Made im Speck der technischen Zauberwelt und profitieren von der Bereitschaft zum exhibitionistischen Konsumverhalten ihrer Kunden. Eine Umkehr ist ausgeschlossen. So ist der Geist des Fortschritts. Das Neue setzt sich durch, weil es Mehrwerte schafft. Der Besitzstand will erhalten bleiben und harrt neuer Verheißungen, die noch mehr Nutzen bringen. Kondratieff lässt grüßen.

Wie bei jeder Transformation von Altem in Neues, wird sich zwar vieles Verheißende relativieren und der Nüchternheit weichen. Sie wird aber auch gewollt oder ungewollt die Kultur des Miteinander verändern. Eine technische Transformation sich selbst überlassen, ohne sie gleichzeitig mit einer an den Menschen ausgerichteten Kulturanpassung zu flankieren, wäre fahrlässig.

Potenziale auf beiden Seiten würden erodieren. Einzelinteressen dominieren. Shareholder Value auf der einen, Karriere und Macht auf der anderen.

Apps und Digitalisierung begünstigen den mächtigen Drang zur Individualisierung des Lebens. Sie führen vor Augen wie ein kollektives Wir-Bewusstsein in ein sozialasketisches Ich-Bewusstsein mutiert. Der Selbstoptimierungswahn ist nicht nur in Sportstudios eindrücklich zu beobachten. Karriereplanung auf Kosten anderer, Anstands- und Moralverluste im Umgang miteinander, Betrug und Vorteilsnahme zur eigenen Bereicherung oder narzisstisches und machtfixiertes Verhalten zur Inszenierung der eigenen Person sind die entfesselten Symptome einer sozial-darwinistischen Grundhaltung. Das implizit gelebte Glückdogma: Wenn’s dem Einzelnen gut geht, geht’s allen gut“, übersieht jedoch, dass eine Gesellschaft nur Zukunft hat, wenn sie auf ein langfristiges und gewolltes Miteinander setzt.

Kultur - das Mauerblümchen des Wandels

Die Kultur des Miteinanders erfordert aber den kritischen Diskurs und grundsätzlich mehr Zeit zum Reifen als jede Technologie. Ängste vor Neuem müssen abgebaut, Gewohnheiten unterbrochen, Einstellungen angepasst und unvertraute Verhaltensweisen etabliert werden. Jeder Tag, der nicht zum Kulturdiskurs genutzt wird und dem Zufall überlassen bleibt, ist ein verlorener und vergrößert die Kluft zwischen Arbeit X.0 und Kultur exponentiell. Ganz zu schweigen von den potenziell ungenutzten Wirkungsgraden und versenkten Kosten einer strukturellen Innovation, die nur unzureichend von Einstellungen und Werten der Belegschaft getragen wird.

Wie divergent technologische und soziale Kulturentwicklungen verlaufen, zeigt sich gleich an mehreren Stellen im Unternehmen:

+ Einerseits stimmen überproportional viele Entscheider einer notwendigen Anpassung von Struktur und Kultur an digitale Geschäftsmodelle zu. Andererseits, so eine Deloitte-Studie, sehen sie signifikante Defizite in der Vorbereitung ihrer Mitarbeiter auf die Anforderungen.

+ Obwohl flexible – im neuen Sprachduktus agile – Arbeitsstrukturen zur Bewältigung von Komplexität unabdingbar sind, wird weiterhin für die Standardisierung von Prozessen und Marktmodellen immenser Aufwand betrieben.

+ Strategisch wird zwar einer ganzheitlichen Sicht von Unternehmenserfolg das Wort geredet, aber bei erster Gelegenheit nur ein gerade aktuelles Ereignis als relevant gesehen und ohne Rücksicht auf gewachsene Leitbilder zum Anlass umfassender Renovierungsmaßnahmen.

+ Kollaboration, d. h. nicht nur Zusammenarbeit unterschiedlicher Experten, sondern Teilhabe und Austausch an der Erfahrung anderer, steht als Arbeitsformat der Wahl auf der Agenda eines fast jeden Betriebes ganz weit oben. Gleichzeitig wird aber nicht gefragt, wie sie unter den Bedingungen von Individualisierungstrends und Egotrips machtmotivierter Eliten überhaupt funktionieren kann.

Synchronisation von Kultur und Arbeit X.0 kann gelingen

Trotz einer auf den Kopf gestellten Arbeitswelt, dominieren oft genug alte Command- & Controldogmen und Aufstiegskarrieren das Innenleben eines nach außen hin modernen Unternehmens. „Des Kaisers neue Kleider“ werden schnell zu Nebelkerzen der Beruhigung, wenn sie disproportional zum Körper sind. Damit die innere Haltung der Betroffenen, ihr Bewusstsein für den Wandel und ihr Zutrauen in dessen Gestaltbarkeit zum neuen Kleid passen, muss man es zusammen mit den Betroffenen schneidern oder den Betroffenen Gelegenheit zum Hineinwachsen geben.

Gerade inhabergeprägte mittelständische Firmen sind prädestiniert für die Synchronisation von technischer und kultureller Entwicklung. Hier lassen sich schnell Task forces etablieren, die ein vorschnelles Aufspringen auf Trends alleine dadurch schon verhindern, dass sie pragmatisch kritisch und direkt mit der Unternehmensspitze interagieren. Auch flache Hierarchien und das Einbinden der Mitarbeiter in die Gestaltung einer Arbeit X.0 können solche Betriebe schneller auf den Weg bringen, als die von lähmenden Strukturabhängigkeiten beeinflussten Konzerne.

Moderativ kann mit den unterschiedlichen Leistungsträgern herausgearbeitet werden, wie der Status quo im Unternehmen ist, welche internen und externen Abhängigkeiten existieren und mit welchen Strategien die betriebliche Zukunft gestaltet werden kann. Die Kunst wird darin liegen, Erfolg mit mehreren Ursachen zu verknüpfen und etwa Finanzierungsauflagen, Wettbewerbsdruck oder interne Ressourcen etc. in ihren jeweiligen Abhängigkeiten zueinander zu erkennen.

Das Cockpit für die synchronisierte Organisation

Wie z. B. ein Unternehmen Schritt hält mit der Notwendigkeit zur Digitalisierung wird dadurch sichtbar, wie ihr Status quo und künftige Anforderungen übereinander gebracht werden. Daraus erst lässt sich etwas sagen über die Notwendigkeit neuer Arbeitsformate, Methoden, Führungs- oder Marktkonzepte. Der Check der dafür erforderlichen kulturellen Anforderungen gibt Auskunft, inwieweit etwa die Selbstführung der Mitarbeiter zur Erfolgssicherung beiträgt und ob die Frage relevant ist, welche Alternativen und Optionen es für die wegdigitalisierte menschliche Arbeit gibt.

Auch wenn es keine Folie für die Synchronisation von Arbeit X.0 und Kultur gibt: ein systemisches Verknüpfen der Anforderungen setzt sie in Gang. Das bedeutet aber auch einen Perspektivwechsel. Erfolgskriterien sind nämlich nicht mehr nur auf messbare Kennzahlen beschränkt. Auch kulturelle Merkmale wie Innovationsfähigkeit, Kompetenzniveau, Komplexitätstoleranz oder Selbstführungsfähigkeit kommen auf die Agenda. Weitestgehend branchenunabhängig sind die vier externen Abhängigkeiten Komplexität der Situation, Markt, Technologieoptionen für Arbeit X.0. und politische Rahmenbedingungen. Diese treffen auf die internen Abhängigkeiten Kapitalkraft, Kompetenzniveau, Strukturformate und Innovationsfähigkeit. Personen- und kulturell gebundene Ressourcen  bestehen in der Experimentierfähigkeit, im Korpsgeist, Know-how-Transfer und in der Möglichkeit, selbstbestimmt verantwortlich zu handeln.

Das Raster zur Analyse und vernetzten Maßnahmenentwicklung kombiniert die externen, internen und Personen- bzw. kulturellen Faktoren:

   

Der Kulturabgleich beginnt mit einer oder mehreren Fragestellungen (etwa: Welche Konsequenzen ziehen wir aus dem Trend zur Digitalisierung?). Diese wird reihum an den externen und internen Abhängigkeiten im Ist-Soll-Abgleich gespiegelt und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die vier Personen- bzw. Kulturressourcen in Maßnahmen überführt.

Selbst singuläre, technische Veränderungen lassen sich so systemisch mit kulturellen Konsequenzen synchronisieren. Verzetteln, ständiges Korrigieren und kulturelle Abstinenz bei Arbeit x.0 entfallen zugunsten einer skalier-, belast- und begründbaren Neuausrichtung.

 

 

 

Kommentare

Uneingeschränkte Zustimmung! Nur: Die meisten Funktionsträger denken von ihrer Fachverantwortung her und nicht ganzheitlich. So stehen dann Optimierungen von Produkt, Prozess und Kosten im Zentrum der Veränderungen. Wir machen das andersherum, indem wir bei größeren Projekten immer erst die Konsequenzen der Projekte mit dem ollen Ishikawa ausloten und dann verändern, wenn die Voraussetzungen (auch die kulturellen) dafür geschaffen sind.

Nachdem wir die Gruppenarbeit bei uns in der Fertigung eingeführt hatten, stellte sich auch eine Bereitschaft zum Teilen spezieller Erfahrungen ein. Strukturen führen durchaus zu veränderten Verhaltensweisen. Mitarbeiter passen sich an die Anforderungen an, nicht nur in ihren Verhaltensweisen, sondern auch zeitversetzt in ihren Einstellungen.

Auf welche Art Mitarbeiter Verantwortung für Veränderung übernehmen, wird davon abhängen, wie die Vorgesetzte ihnen vertrauen und wie die Mitarbeiter das überhaupt wollen und können. Wer will, sich dafür noch die Zeit nehmen? Da ist es doch einfacher, den Change auszurufen und zu exekutieren. Wer in den Bus einsteigt, fährt mit. Wer nicht, bleibt zurück.

Der Denkfehler, vom Gelingen auszugehen, wird besonders von technischen Fragestellungen bedient und suggeriert Erfolg. Deswegen ist die störanfällige und unsichere Beschäftigung mit sowas unbestimmtem wie Kultur aus Gründen des Selbstschutzes nicht opportun. Dem Ingenieur ist eben nichts zu schwör.

Wer die Fertigungsstraßen der Automobilbauer kennt, sieht, wie Industrie 4.0 immer unabhängiger von Menschen und der Unternehmenskultur wird. Automatisierung und Rationalisierung erfolgen ausschließlich technisch. Der Mensch im Fertigungsprozess ist so überflüssig und braucht neue Perspektiven in neuen Berufen. Politik und Gesellschaft verharren aber im "Weter so!" Eine Kultur der Ignoranz ist zwar auch eine, aber eine, die sich selbst abschafft.

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